Gedankenlärm und Wüstenstille

Eine Reise durch die Wüste oder ein mehrtägiger Aufenthalt an einem Ort in der Stille und Weite dieser großartigen Landschaft bietet die Möglichkeit einer Erfahrung mit sich selbst, eine “Selbsterfahrung“. Das einzige, was es hierfür braucht, ist die Bereitschaft, sich auf sich selbst, auf sein Inneres einzulassen.

Was bedeutet das? Nun, zu allererst mag es bedeuten, dass ich konfrontiert bin mit dem Gedankenlärm in meinem Kopf. Ich sitze also, bequem an einen Felsen gelehnt im Schatten und blicke in die Weite der Wüste. Also muss es mir doch gut gehen, denn wünschen wir uns nicht immer wieder in unserem hektischen Alltag, endlich mal “alles hinter uns zu lassen“, endlich mal “abzuschalten“? Genau dies ist die Situation, wenn ich mich in die Stille der Wüste begebe. Ich lasse hinter mir: alle Ablenkungen des Alltags, die bunte Bilderwelt der Werbung, mein Bedürnis, mich abzugrenzen, mich durchzusetzen oder einfach nur “durchzuhalten“.
Wirklich? Ist das so einfach? Ich begebe mich in die Wüste und alles Ungewollte fällt ab von mir? Natürlich nicht!
Der erste Schritt besteht häufig darin, erst einmal wahrzunehmen, was sich in meinem Innern ständig, oft ohne Unterbrechung abspielt: Gedanken, Bewertungen, Monologe, Dialoge mit fiktiven Personen, und all das begleitet von diffusen Ängsten, von Gefühlen der Bedrückung, des Abgeschnittenseins vom Leben und der Lebendigkeit. Ich kann vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben wahrnehmen, dass ich nur noch funktioniere und mein Innerstes ignoriere.

Und das soll gut sein? Ich will mich doch besser fühlen!

An dieser Stelle möchte ich auf die wirkliche Bedeutung des Satzes hinweisen, den viele Menschen so oft aussprechen: Ich will MICH besser fühlen. Ich will besser (oder auch EHRLICHER) fühlen, was wirklich in mir arbeitet, was mit mir los ist, was mein Inneres ist, was ich wirklich will, was wirklich wichtig ist für mich in meinem Leben.

Oft sind wir ja sehr damit beschäftigt, all die vielen kleinen und großen Dinge in unserem Leben nur noch zu bedienen: unser Heim, unsere Beziehungen, unsere Arbeit, manchmal wird sogar unser Hobby zu einem weiteren Punkt auf der Liste, die abzuarbeiten ist.

Nun sitze ich also in der Wüste, alleine mit mir und einer Flasche Wasser und………. muss vielleicht feststellen, dass der gleiche Gedankenstrom, die gleiche Getriebenheit  weiterhin in meinem Körper spürbar ist.

Das ist nun wirklich ein großer Schritt hin zu mir selbst! Ich kann mich nun, ohne Ablenkung, wahrnehmen, mich fühlen. Ich nehme mich wahr, wie ich bin, jetzt, in diesem Moment. Ich komme an. In mir. Bei mir. Ob mir das gefällt oder nicht, ist unwichtig. Allein wesentlich ist, das “Dasein“ mit allem, wie es ist. Es nicht anders haben wollen, mich nicht dagegen wehren. Einfach sitzen, spüren, da sein, Wasser trinken.


Die Wüste gibt uns die Gelegenheit, leer zu werden, von all dem, was uns ablenkt von uns selbst, unserem innersten Kern, der STILLE IN UNS.

Das ist das Wunder: hinter all dem Gedankenlärm ist immer die Stille. Wir können sie normalerweise nur nicht wahrnehmen. Ein Aufenthalt in der Wüste bringt uns zuerst in Kontakt mit dem, was die Stille und den Frieden in uns verdeckt: die kontinuierliche Gedankenaktivität mit den entsprechenden Emotionen von Angst, Verlassenheit, Getriebenheit, um nur einige zu nennen. Und wenn wir all das wahrnehmen, sein lassen, wie es ist, verändert es sich, löst sich, und Ent-Spannung wird unsere nächste Erfahrung. Wir erfahren mehr und mehr unser eigentliches Selbst: Stille, Frieden, Freude.

Die Kameltour ist so angelegt, dass jeder Teilnehmende die Möglichkeit hat, durch diesen Prozess der Selbsterfahrung zu gehen.

In der Wüste ist Stille nicht eine Erfahrung, die ich nur zweimal täglich mache während einer bestimmten Zeitspanne, sondern sie ist einfach da, immer. Es kommt nur darauf an, dass ich mich dieser Erfahrung öffne. Hinweise und einfache „Übungen“ stelle ich bereits im Hüttencamp vor, bevor wir die Kameltour beginnen.

 

Bereits die allererste Tour, die ich begleitet habe, hat mich etwas sehr Wichtiges gelehrt: Die Menschen wollten in erster Linie in “Ruhe gelassen“ werden. Sie wollten kein tägliches, zur selben Zeit angeleitetes Meditations-programm. Sie haben zu Hause “genug Programm“. Sie haben diese Reise gebucht, weil sie eben kein Programm wollen.
Eine Frau liebte es, herumzulaufen und die Farben der Felsen zu bewundern, eine andere fand es am schönsten, einfach nur dabeizusitzen, wenn Mohammed, unser Koch, das Gemüse schnitt, Teig für das Fladenbrot knetete, es darauf in der Erde buk. Dabei trank sie Tee und kam sich selbst dabei immer näher.

 

Nicht nur die Wüste kann uns in Kontakt bringen mit uns selbst, auch das Zusammensein mit den Beduinen lässt uns zur Ruhe kommen. In diesen Menschen pulsiert der Rhythmus der Wüste, der zu einem langsamen, von Stille durchtränkten  Ablauf der Tage beiträgt.

Manchmal lösen sich Blockaden, was durch innere Turbulenzen begleitet sein kann. Dann geht es darum, in uns hineinzuhören, all das Widersprüchliche da sein zu lassen und auch oft zu erkennen, dass wir erst einmal gar nichts “tun“ können, sondern erst einmal einverstanden sein müssen mit dem, was ist und wie es ist. Ankommen dort, wo wir sind. Unter all dem können wir dann unseren inneren Kompass finden, der uns in die Richtung weist, die unseren tieferen seelischen Bedürfnissen entspricht und oft sehr wenig zu tun hat mit all unserem Festhalten am Vertrauten und Sicheren.


Auszeit für die Seele

Wenn wir nach einem Kamelritt an unserem Mittagsplatz oder Nachtplatz ankommen, von unserem Kamel geklettert oder gerutscht sind, entfachen die Beduinen, nachdem sie die Kamele versorgt haben, als erstes ein Feuer. Ein Feuer bedeutet Ankommen an einem Ort. Manchmal will man einfach nur am Feuer sitzen und zuschauen, wie die Beduinen Gemüse schneiden, Wasser für Tee und das Essen erhitzen, den Teig für die Brote kneten, die morgens und abends frisch zubereitet werden. Zeit haben. Zeit für die einfachen Dinge des Lebens. Einfach nur sitzen und einen Tee trinken, sich hinlegen und in den Himmel schauen oder auf den nächsten Hügel klettern. Sich eine Decke aus dem Gepäck holen oder sich etwas Wasser über den Kopf gießen, weil es so heiß ist.

Stille. Nach und nach gewöhnen wir uns an den langsamen Rhythmus der Tage. Wie herrlich ist es, aufzuwachen, wenn es hell wird, das Wunder des Sonnen-aufgangs erleben. Der Rauch des Feuers zieht durch die Luft, ein Duft, der Lust auf das Frühstück macht oder den ersten Kaffee. Unsere Sinne öffnen sich, können subtilere Dinge wahrnehmen. Hier in der Wüste ist es still. Die Stille ist so tief, dass jedes Geräusch die Stille nur noch machtvoller und tiefer zu machen scheint. Unser Hörsinn verfeinert sich, kann leisere und leisere Geräusche wahrnehmen. Wie sich unsere Kleidung bei Bewegungen aneinander reibt. Die Schritte im Sand. Das Gluckern des Wassers in der Flasche. Wir kommen an. Jeden Tag an einem neuen Ort. Und in unserem Innern.

Hier in der Stille der Wüste ist es leichter, in uns hineinzuhören. Der Lärm unserer Gedanken kann anfangs in starkem Gegensatz zu der äußeren Stille stehen. Die Weite und Stille der Wüste und der langsame Rhythmus der Tage bewirkt, dass wir mehr zu uns selbst kommen. Wir stellen fest, dass dieser innere Kern, dieses Zentrum, nicht erschaffen werden muss, sondern da ist, immer schon. Die Stille der Wüste bringt uns in Kontakt mit der Stille in uns. Ganz mühelos. Lassen wir uns ein auf den Rhythmus der Wüste. Kommen wir an.


Besinnlichkeit am Lagerfeuer

Am Feuer. Wir sind zu dritt, Bettina, unser Koch Mohammed und ich. Wir stellen unsere Schüsseln ab, Mohammed füllt Bettina eine dritte Portion der köstlichen Linsensuppe in die Schale und freut sich, dass ihr sein Essen so gut schmeckt. Ich bin bereits satt, wickle mich ein in eine Decke, lehne mich zurück, an die Lehne unseres Wüstensofas, welche aus nebeneinander gestellten Kamelsätteln besteht, gepolstert mit zwei der dicken Beduinendecken.

Heute Abend sind wir alle in uns gekehrt. Mohammed zündet sich eine Zigarette an, wirft noch einige Holzstücke ins Feuer und prüft, wie heiß das Wasser für den Abendtee bereits ist. Er zieht seinen Beduinenmantel an und legt sich auf die Seite, mit seinem linken Unterarm auf einen Deckenberg gestützt, lässt den Blick über die Kamele gleiten, die in der Nähe im Wüstensand liegen, schweigt. Bettina isst langsam ihre letzte Portion Suppe, schaut ins Feuer, welches wieder aufgeflammt ist. Es ist so still. Eine tiefe, unendliche Stille, in der jedes auftretende Geräusch wie das Kratzen des Löffels in der Schüssel, das Knistern des Feuers, das Fiepen einer Maus, hin und wieder ein Hüsteln, ein Räuspern, die Stille nur noch tiefer erfahrbar macht. Es ist als ob man die Stille nicht hört, sondern mit dem ganzen Körper fühlt, bis zu dem Punkt, wo die Grenze nicht mehr spürbar ist zwischen der Stille der Wüste und der Stille im eigenen Innern.

Das Wasser kocht. Heute Nachmittag kam Mohammed mit einer Handvoll eines grünen Gewächses zurück zum Lagerplatz. “Good for body!“ sagte er. Jetzt knickt er die ca. 30 cm langen Stängel, so dass sie in die kleine Teekanne, die im Feuer steht, hineinpassen, lässt das Wasser nochmals aufkochen. Nach einigen Minuten gießt er den Tee in die kleinen Teegläser, viel Zucker für ihn, wenig für mich und keinen für Bettina. Nun trinken wir Tee aus einem Wüstengewächs, so köstlich und mit keinem anderen vergleichbar, den wir bisher in unserem Leben getrunken haben.

Wir haben Neumond. Der Himmel ist so dunkel, dass die Milchstraße als milchige Straße erkennbar ist und sich über den gesamten Himmel zieht. Immer wieder geht unser Blick nach oben. Bettina hat sich inzwischen hingelegt, eingekuschelt in eine Decke. Ich trinke ein weiteres Glas Tee und spüre, wie sich Schwere in meinem Körper ausbreitet. Ich kann kaum noch die Augen offenhalten, freue mich auf meinen Schlafsack. Mohammed lässt sich zum Schlafen nieder und breitet über seinen Mantel noch eine Decke. Er wird, wie jede Nacht, hier an der Feuerstelle bleiben. Bettina gähnt, setzt sich auf und beschließt, zu ihrem Lagerplatz zu gehen. Auch in bin müde. Wir suchen unsere Sachen zusammen, die wir für die Nacht brauchen, nehmen unsere Taschenlampen und machen uns auf den Weg, jede zu ihrer Schlafstelle.

Als ich einige Zeit später auf dem Rücken in meinem Schlafsack liege, die Erde unter mir spüre, den Sternenhimmel über mir sehe, fühle ich mich eingehüllt, sicher, geborgen in der Weite der Wüste und schlafe in Frieden ein.